FIW-Spotlight: Der Einfluss der internationalen Energiepreise auf die Inflation
Ein Vergleich für die USA und den Euro-Raum
(ergänzt um Deutschland und Österreich)
Mit Inflation wird in diesem Beitrag die allgemein übliche und von den Zentralbanken zur Operationalisierung ihrer geldpolitischen Ziele verwendete Eingrenzung auf die Vorjahresveränderung der Endverbraucherpreise (HVPI) verstanden.
Für die Energiepreise werden die Rohölpreise am Weltmarkt (WTI in den USA und Brent in Europa) sowie die Großhandelspreise für Erdgas und Strom in den Niederlanden und Deutschland [1] betrachtet.
Preisschocks bei Rohöl werden entweder durch Angebotsschocks (Embargo oder Kriege) oder Nachfrageschocks in Boomphasen oder Rezessionen (Dotcom-, globale Finanz- und COVID-19-Krise) ausgelöst (Abbildung 1). Die Internationalen Rohölmärkte sind sehr stark integriert und die Benchmarkpreise für die USA (WTI) und Europa (Brent) entwickeln sich (meist) synchron.
Sehr starke Preisschwankungen der internationalen Energiepreise (über den gesamten Betrachtungszeitraum bei Rohöl und erst am aktuellen Rand auch bei Erdgas und Strom) schlagen dann auch auf die Verbraucherpreise insgesamt durch. Die Phasen mit sehr hoher bzw. sehr niedriger Inflation fallen mit extremen Preisanstiegen bzw. - verfall bei den Rohölpreisen zusammen (Abbildung 2).
Bis in die jüngste Vergangenheit (~Sommer 2021) spielten vor allem die Rohölpreise für die Entwicklung der Inflationsrate eine zentrale Rolle. Seither haben - im Besonderen in Europa - auch die Großhandelspreise für Erdgas und davon stark beeinflusst auch die Strompreise einen immer größeren Einfluss auf die Inflationsdynamik. Auf der Basis der Futures-Kontrakte (Stand Ende August 2022) im Großhandel ist für die Endverbrauchspreise der privaten Haushalte (im HVPI erfasst) und (kleinen bis mittleren) Unternehmenbei Gas und Strom mit weiteren drastischen Steigerungen zu rechnen und zu erwarten, dass sie 2023 der dominante Faktor für die gesamte Inflationsdynamik werden. Hier kommt ein zweifacher Angebotsschock zum Tragen: einerseits der politisch herbeigeführte Lieferengpass von Erdgas und andererseits die Knappheit von Strom aus anderen Quellen (z. B. aus Wasser- oder Atomkraft durch geringe Niederschlagsmengen bzw. Wasserstände in Flüssen und hohen Wassertemperaturen und damit verringerter Kühlleistung).
Ein Vergleich der Inflationsraten des Euro-Raums und der USA zeigt, dass
i) aktuell (Juli 2022) die Höhe der Inflationsrate mit knapp 9% zwar ähnlich hoch ist,
ii) die Faktoren, die die Teuerung treiben aber unterschiedlich sind, und daraus abgeleitet auch
iii) die weitere Entwicklung der Inflation in den USA und in Europa unterschiedlich ausfallen dürfte.
Die Inflationsentwicklung in Europa wird seit Herbst 2021 vor allem von den Energiepreisen dominiert. Im Juli 2022 machte der direkte Beitrag der Energiepreise zur Inflationsrate des Euro-Raumes lt. HVPI rund 45% aus. Die Vergleichszahl für den US-VPI beträgt lediglich 21% (hellblaue Fläche in Abbildung 3). In den USA ist der Beitrag der Kerninflation (also die Teuerung von Dienstleistungen plus Konsumwaren ohne Energie und ohne Nahrungs- und Genussmittel; grüne Flächen in Abbildung 3) deutlich größer als in Europa (69% zu 45%).
Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass der Inflationszyklus in den USA schon deutlich fortgeschrittener als in Europa ist. Höhere Kosten aus Lohn- und Preissteigerungen bei Energie, anderen Rohstoffen und Vorprodukten wurden schon früher auf die Endverbraucherpreise überwälzt. Weiters dürfte die in den USA schon 2021 merklich höhere Kerninflation auch durch eine stärkere private Konsumnachfrage mitverursacht worden sein [2].
Eine straffere Geldpolitik der FED (die schon früher den Kurswechsel in der Zinspolitik einleitete als die EZB), sowie eine weitere Abschwächung der US-Konjunktur [3] im zweiten Halbjahr 2022 dürften den Inflationsdruck in den USA stärker bremsen als das in Europa der Fall sein dürfte. Dieser Unterschied in der Geldpolitik hat zur Abwertung des Wechselkurses des Euro zum US-Dollar beigetragen und dadurch (Energie)Importe relativ verteuert.
Für die USA dürfte – falls es nicht zu einer deutlichen Verteuerung von Rohöl (und in der Folge von Heizöl und Treibstoffen) kommt – der Höhepunkt der Inflation bereits erreicht sein. In der zweiten Jahreshälfte 2022 könnten die Inflationsraten somit wieder (langsam) sinken.
Anders stellt sich die aktuelle Lage in Europa dar. Betrachtet man die Preisentwicklungen seit Sommer 2021 auf den europäischen Großmärkten für Erdgas und Elektrizität und deren Markteinschätzungen bis Ende 2023 auf der Basis von der Futures-Notierungen (Abbildungen 4 und 5; blaue bzw. grüne Linien für Deutschland bzw. Österreich) und die Entwicklung in den USA (rote Linien), so zeigen sich die Folgen der russischen Erdgasangebotsverknappung für den europäischen Markt seit letztem Sommer in enormen Preissteigerungen. Durch den Ukrainekrieg ab Ende Februar 2022 und die weiteren russischen Liefereinschränkungen ab dem Sommer 2022 („Nord Stream 1 – Wartungsarbeiten“) sind die Großhandelspreise im Jahr 2022 nochmals enorm angestiegen.
Die Preissteigerungen bei Gas von 15-20 Euro je MWh Anfang 2021auf über 170 Euro je MWh im Juli 2022 (Monatsdurchschnittswerte) bzw. von rund 50-60 Euro je MWh auf rund 320-340 Euro bei Strom (Basispreis – Monatsdurchschnitt) im selben Zeitraum, entspricht das grob einer Verzehnfachung des Preises bei Gas und zumindest einer Versechsfachung bei Strom. Diese ist an die Verbraucherpreise der privaten Haushalte bisher nur zu einem (sehr) geringen Teil weitergegeben worden, da Preisanpassungen in aufrechten Verträgen nur verzögert zum Tragen kommen. Im Euro-Raum (Österreich) sind im Juli lt. HVPI-Teilindizes die Erdgaspreise um 65% (78,8%) und die Strompreise um 38,6% (10,5%) höher als im Jänner 2021 [4].
Auf Basis dieser Ausgangslage wird es in der zweiten Jahreshälfte 2022 und im ersten Halbjahr 2023 zu weiteren sehr großen Preiserhöhungen bei den Endkundentarifen für Gas und Strom der Energieversorgungsunternehmen kommen, falls es nicht zu diskretionären wirtschafts-politischen Eingriffen der EU auf den europäischen Energiegroßmärkten und von den Mitgliedstaaten auf die Endkundenpreise in den einzelnen Ländern kommt.
Die höheren Inflationsraten (über 5%) seit Jahresbeginn haben in den EU-Ländern bisher nur zu mäßig höheren Lohnabschlüssen geführt. Für das Jahr 2022 ist in Europa somit von einem massiven Reallohnverlust auszugehen. Die hohe bereits realisierte und für 2023 noch zu erwartende Inflation werden in den anstehenden Lohnverhandlungen für das kommende Jahr wohl in höheren Lohnforderungen ihren Widerhall finden.
Die direkten und indirekten Wirkungen der noch weiter (dramatisch) ansteigenden Energiekosten und höheren Arbeitskosten werden in Europa durch eine Überwälzung auf die Waren und Dienstleistungspreise die Inflation noch weiter befeuern. Für die europäische Wirtschaft ergibt sich aus einer abschwächenden Konjunktur – und zunehmenden Rezessionsgefahren – und gleichzeitig weiter steigender Inflation eine markante Stagflationsgefahr mit weiterhin großen Zielkonflikten. Hohe weitere Zinserhöhungen würden kurzfristig die Abwertungstendenzen des Euro gegenüber dem US-Dollar verringern und so für USD-denominierte Importe den Inflationsbeitrag reduzieren, aber die Konjunktur weiter belasten, ohne den oben beschriebenen steigenden Inflationstrend aus den Energiepreisen (zumindest) kurzfristig brechen zu können.
Autor: Dr. Josef Baumgartner
ist Senior Economist im Forschungsbereich "Makroökonomie und europäische Wirtschaftspolitik" und seit 1996 am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) tätig. Seine regelmäßigen Forschungsaktivitäten umfassen Inflationsanalysen und Inflationsprognosen, die Erstellung mittelfristiger Prognosen (Projektleitung) und wirtschaftspolitischer Simulationen mit dem WIFO-Macromod, einem ökonometrischen Modell der österreichischen Wirtschaft sowie die Erstellung des (wöchentlichen) WIFO-Wirtschaftsindex (WWWI; Projektleitung), eines Indikatorensystems auf wöchentlicher und monatlicher Basis um die realwirtschaftliche Aktivität der österreichischen Volkswirtschaft zeitnah zu schätzen (Nowcasting).
Endnoten
[1] Anmerkung zur Länderauswahl: Im europäischen Erdgas-Großhandel stellt der Preis für die Niederlande (TTF) als „ältester“ und liquidester Markt den Benchmark dar. Die Entwicklung der Erdgas-Futurepreise für Österreich (CEGH) und Deutschland (THE) sind mit TTF kontemporär sehr hoch korreliert.
Im europäischen Stromgroßmarkt ist Deutschland der größte Produzent und Abnehmer und wird daher als Benchmark verwendet.
[2] Im Rahmen der COVID-19-Krise und danach waren die Unterstützungsleistungen an die privaten Haushalte in den USA (teilweise) deutlich höher als in Europa.
[3] Im saisonbereinigten Quartalsvergleich schrumpfte das reale BIP in den USA sowohl im I. als auch im II. Quartal 2022 (-0,4% bzw. -0,1%), während im Euro-Raum noch ein Wachstum verzeichnet werden konnte (+0,5% bzw. +0,6%).
[4] Gesamtpreis – Arbeitspreise plus Netzgebühren und Steuern. Die Spreizung der Preissteigerungen im Euro-Raum ist jedoch enorm: von +238% bei Gas und +143% bei Strom in Estland zu unveränderten Preisen in Malta im Juli 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat.
Der vergleichsweise geringe Anstieg der Strompreise-gesamt im HVPI ist auf die Aussetzung der Ökostromförderbeiträge und -pauschale und der Senkung der Elektrizitätsabgabe zurückzuführen.
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